Bäume lügen nicht: Ihre Gestalt ist immer die Reaktion auf äußere Einwirkungen oder innere Schäden und kann durch genaue Beobachtung rückverfolgt werden. Professor Claus Mattheck und seine Arbeitsgruppe am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) haben die Prinzipien, wie Bäume sich entwickeln und reparieren, erkannt und sukzessive auf die Optimierung von Bauteilen bezüglich Leichtbau und Dauerfestigkeit übertragen.
Aus anfangs komplizierten Rechenprogrammen entwickelten sich einfache Denkwerkzeuge, die ein neues Verständnis der Bäume ganz ohne Formeln ermöglichen. Ihre Erkenntnisse haben Claus Mattheck, Klaus Bethge und Karlheinz Weber nun in dem Buch „Die Körpersprache der Bäume“ zusammengefasst.
Mechanismen erkannt …
Die Baumgestalt ist ein Protokoll von Schicksalsschlägen und deren Überwindung durch Selbstreparatur. Bäume reagieren auf äußere Einflüsse und innere Schäden, auf Wind, Risse, äußere Verletzungen oder Pilzbefall. Sie reparieren sich selbst durch lastgesteuert angebautes Holz an mechanischen Schwachstellen.
Diese grundlegenden Mechanismen, nach denen sich Bäume in der Natur entwickeln und reparieren, hat Mattheck mit seiner Arbeitsgruppe früh erkannt. Hinter allem steht das Axiom konstanter Spannung, die Regel von der gerechten Lastverteilung auf der Baumoberfläche. Der Baum wächst gleichsam solange Holz zu, bis die defektbedingt lokal hohe Spannung wieder vergleichmäßigt ist. Die so entstandenen Warnsignale deutet die Methode des VISUAL TREE ASSESS-MENT (VTA).
„Die VTA-Methode ist inzwischen weltweit verbreitet und Grundlage vieler Gerichtsentscheidungen“, stellt Professor Dr. Claus Mattheck, Abteilung Biomechanik am Institut für Angewandte Materialien des Karlsruher Instituts für Technologie, fest. „Durch äußere Beobachtung des Baumes erkennen wir Warnsignale, die genauer untersucht werden müssen. Auf Grundlage umfangreicher Feldstudien können wir Versagenskriterien für Bäume festlegen. So können wir beurteilen, ob von bestimmten Bäumen eine Gefahr für ihre Umgebung ausgeht.“
Inzwischen liegen auch umfangreiche Erfahrungen mit exotischeren Baumtypen wie Schirmbäumen oder Brett- und Stelzenwurzlern vor. Dazu wurde auch Material in Zusammenarbeit mit dem Singapore National Parks Board gewonnen, das die VTA-Methode seit fast zwanzig Jahren erfolgreich einsetzt.
… und übertragen
Claus Mattheck und seine Arbeitsgruppe übertrugen die von der Natur abgeschauten Prinzipien auf mechanische Bauteile und ließen sie entsprechend „wachsen“. Die entwickelten Programme hielten Einzug in die Entwicklungsabteilungen der Industrie, beispielsweise der Autobauer. Durch Formoptimierung entstanden leichtere und dabei gleichzeitig haltbarere Komponenten. Anfangs waren dazu komplexe Programme notwendig. Durch ein vertieftes Verständnis der mechanischen Zusammenhänge kann inzwischen zumindest für einfache Anwendungen auf Computerprogramme verzichtet werden. Mit der „Methode der Zugdreiecke“, einer rein grafischen Methode zum Abbau von Kerbspannungen, können potenzielle Bruchstellen entschärft werden. Das Ergebnis ist eine Universalform der Natur, die den Bachkiesel genauso beschreibt wie die Steilküste, den Knochen und die Bäume. Es zeigte sich, dass diese Universalform sich auch in der unbelebten Natur durch Deformation einstellt oder Erosion.
Diese Denkwerkzeuge ermöglichen auch ein neues Verständnis der Bäume, ohne auf komplizierte Formeln zurückgreifen zu müssen. „Die neuen Denkwerkzeuge wenden wir erstmals auf alle Teile des Baumes und seiner Umgebung an“, so Professor Mattheck. „Jetzt sprechen die Entwickler der großen Maschinenbaukonzerne und die Baumpfleger eine gemeinsame mechanische Sprache: eine standesübergreifende Volksmechanik.“
Ein Vierteljahrhundert Baumforschung der Abteilung Biomechanik des KIT ist „Die Körpersprache der Bäume“ von Claus Mattheck, Klaus Bethge und Karlheinz Weber zusammengefasst (ISBN 978-3-923704-86-6).