Erwin Engeßer, einst Forstbetriebsleiter bei den Bayerischen Staatsforsten, seit Mitte 2014 stellvertretender Behördenleiter und Bereichsleiter Forsten des AELF Regensburg, suchte nach Lösungen, um Kunststoffhüllen möglichst vollwertig durch eine biologisch abbaubare Variante ersetzen zu können. In Zusammenarbeit mit dem Handwerksmeister Gottfried Vorbauer wurde eine echte „Öko-Hülle“ entwickelt: Der Kelheimer Setzlingsschutz in Jute.
Der Kelheimer und Oberpfälzer Jura wird zwar von Fichte und Buche dominiert, ist aber sehr reich an Mischbaumarten: Elsbeere, Eibe, Feld-, Spitz- und Bergahorn, Winter- und Sommerlinde, Esche, Lärche und überall vereinzelt Weißtannen- und Eichen-Naturverjüngung. Um diese in geringen Anteilen vorkommenden Baumarten aus dem Äser zu bringen, suchte Erwin Engeßer nach Lösungen, um Kunststoffhüllen möglichst vollwertig durch eine biologisch abbaubare Variante ersetzen zu können. In Zusammenarbeit mit dem Handwerksmeister Gottfried Vorbauer, der bei der Behinderteneinrichtung der Landshuter Werkstätten die „Grüngruppe“ leitete, wurde die „Öko-Hülle“ entwickelt, die im Interview mit Erwin Engeßer vorgestellt wird.
Herr Engeßer, wir haben bewusst den 30 Jahre alten Slogan „Jute statt Plastik“ als Titel für unser Interview gewählt. Dieser Slogan beschreibt fast schon ein Lebensgefühl: weg von der Wegwerfmentalität, hin zu nachhaltigem Wirtschaften. Welchen Bezug sehen Sie zum „Kelheimer Setzlingsschutz“?
Engeßer: Es war mir ein persönliches Anliegen, adäquaten Ersatz für den mancherorts beinahe inflationär anmutenden Gebrauch von Wuchshüllen aus Kunststoff zu finden. Von anderen Forstleuten wurde die mit Wuchshüllen gesicherte Kulturfläche schon hinreichend mit Begriffen wie „Soldatenfriedhof“ oder auch „Plastikwüste“ beschrieben. Eine Wahrnehmung, die ich unterschreibe. Im Jahr 2015, in Bayern unter dem Motto „Waldnaturschutz-Jahr“, konnte ich mit meinem damaligen Stellvertreter im Betrieb Kelheim, Rudolf Habereder, in mehreren Sammelaktionen beutelweise Fegeschutzspiralen aus dem Wald tragen. Diese stammten aus den 1980er-Jahren – teilweise waren sie vollständig in der Humusauflage verschwunden. Kritisch finde ich weniger vollständige Spiralen, die noch leicht aufzufinden waren, als kritisch betrachte ich die zerbrochenen Spiralen, die in Form von Bruchstücken mühevoll aufgeklaubt werden müssen. Eine ähnliche Situation sehe ich in den kommenden Jahrzehnten auf uns zukommen, wenn Wuchshüllen nach ihrer zweiten Verwendungsphase sich in ähnlichen Stadien befinden, abgebaut und entsorgt werden müssen.
Was unterscheidet den „Kelheimer Setzlingsschutz“ von Pflanzenschutzmaterialien aus Kunststoff?
Engeßer: Im Wesentlichen natürlich die Verwendung natürlicher, biologisch abbaubarer Werkstoffe. Wir haben zwei Ausführungen des Setzlingsschutzes entwickelt: Die eine, bei der das Wuchsgitter aus unverzinktem Drahtgeflecht besteht, die andere, bei der der Verbiss- und Fegeschutz durch die Verwendung eines behandelten Jutegewebes gewährleistet wird. In Form gehalten wurde der Setzlingsschutz anfänglich aus drei Lärchen- oder Douglasienstäben, im Falle der Juteausführung zusätzlich noch durch einen Drahtbogen aus unverzinktem Draht. Alles Materialien, bei denen ein biologischer, rückstandsfreier Abbauprozess sicher gewährleistet ist. Ein Abbau und anschließende Entsorgung entfallen – auch ein Einwachsen wird unserer Erfahrung nach zuverlässig ausgeschlossen.
Warum drei Stäbe? Wuchshüllen
oder Wuchsgitter aus Kunststoff
benötigen nur einen, maximal
zwei Haltestäbe. Das ist doch unter dem Kostenaspekt nicht unerheblich?
oder Wuchsgitter aus Kunststoff
benötigen nur einen, maximal
zwei Haltestäbe. Das ist doch unter dem Kostenaspekt nicht unerheblich?
Engeßer: Zwei Maßstäbe waren uns bei der Entwicklung des Setzlingsschutzes, bei der ich die Aufgabenstellung formuliert habe und die durch den engagierten Handwerksmeister und Jäger Gottfried Vorbauer in die Praxis überführt wurde, wichtig: Größtmöglicher Wuchsraumdurchmesser bei gleichzeitiger Gewährleistung, dass die Forstpflanze gesichert in der Lage ist, durch ihr Wachstum die Hülle in jedem Fall selbstständig öffnen zu können. Der Setzlingsschutz darf nicht geschlossen werden, was auch wir im Zuge der Versuche seit 2006 haben lernen müssen: Die parallel angebrachten Haltestäbe fungieren wie eine Sollbruchstelle – die Pflanze drückt sie durch ihr Breitenwachstum mit der Zeit einfach auseinander. Die heute zum Einsatz kommenden Robinienstäbe gewährleisten eine sichere Standzeit über alle Baumarten und Standortgegebenheiten hinweg. Heimisches Nadelholz wurde im Bereich des Bodenkontaktes unter Umständen zu früh instabil, das ist gerade in Schwarzwildrevieren oder bei hohen Schneelagen ein Problem. Die Verwendung dreier Stäbe ist also primär technischer Natur und vorgegeben.
Im Vergleich zu herkömmlichen Wuchshüllen ist lt. Anbieter der Kelheimer Setzlingsschutz mit einem Preis von 5,90 € pro Stück aber verhältnismäßig teuer. Wie rechtfertigen Sie trotzdem deren Einsatz?
Engeßer: Ich sehe den Setzlingsschutz vor allem unter einem ästhetischen Aspekt, der kaum in einen monetären Wert übersetzt werden kann: Viele Waldbesucher sehen die Wuchshülle aus Plastik kritisch. Sie ist sehr auffällig, passt nicht in unser Waldbild und wir präsentieren die naturnahe Waldwirtschaft in der Tourismus- und Wanderregion Altmühltal so auch sehr schlecht. Einerseits fordern wir den Waldbesucher auf, jedes Papiertaschentuch als Müll aus dem Wald wieder mitzunehmen, karren selber aber tonnenweise Kunststoff in den Wald. Der Setzlingsschutz vermittelt ein stimmiges Bild von Wertigkeit, Individualität und kommt dezenter daher, weil seine Materialien zum Wald „passen“. Wir bewegen uns bei der manuellen Fertigung durch eine Behindertenwerkstatt auch weit weg vom industriell gefertigten Massenprodukt, was zu einer eventuellen Senkung der Herstellungs- und Materialkosten führen könnte. Den Setzlingsschutz sehe ich dort, wo jagdliche Maßnahmen fruchten und gewünschte Mischbaumarten trotzdem hochwertigen Schutz benötigen.
Worin liegt die Unterscheidung zur Ausführung in Jute und unverzinktem Draht?
Engeßer: Als wir 2006/2007 mit der Ausbringung der ersten Jute-Modelle begannen, wurde uns schnell klar, dass der Schutzzeitraum speziell für die Weißtanne und Eibe nicht sicher gewährleistet werden konnte. Ziel war es hier, einen wenigstens achtjährigen Schutzzeitraum zu erzielen. Das Jutegewebe, welches wir zu Beginn aus Indien bezogen, war unbehandelt, also reine Naturfaser. Nach einem Regenguss sog es sich dermaßen mit Wasser voll, dass es wie ein nasser Kartoffelsack an den Stäben hing. Durch die Behandlung des Gewebes erzielten wir zwei Effekte: Erstens eine höhere Formstabilität und zweitens eine längere Haltbarkeit. Jedoch war die Juteausführung für den Einsatz bei Eibe und Tanne immer noch nicht ausreichend langlebig. Deswegen entschlossen wir uns zur zweiten Ausführung mit unverzinktem Drahtgeflecht, welches auch unter Schirm einen ausreichenden Schutzzeitraum bietet, ohne jedoch einzuwachsen.
Wie wird das Verfahren der Ausbringung seitens der Mitarbeiter bewertet?
Engeßer: Aufgrund der zusammengerollten, anwendungsfertigen Auslieferung ist der Aufbau problemlos zu bewerkstelligen: Die Hülle wird ausgerollt und hat dann bereits ihre Form. Der Mittelstab wird neben der Pflanze eingeschlagen, danach der Setzlingsschutz um die Pflanze gelegt und durch paralleles Einschlagen der Außenstäbe geschlossen. Ich möchte hierbei aufgrund unserer langjährigen Erfahrung nochmals betonen, dass die Hülle auf keinen Fall durch Verdrahten oder Ähnlichem geschlossen wird! Je nach Wüchsigkeit der Pflanze und Standort wäre der junge Forstbaum dann nicht in der Lage, die Hose zu öffnen! Zudem ist darauf zu achten, dass das Netz oder Drahtgeflecht keinen Kontakt zum Boden erhält. Wir empfehlen einen Abstand von 5 bis 8 cm zum Boden, was einerseits eine ausreichende Einschlagtiefe gewährleistet, zum anderen die Möglichkeit bietet, unerwünschten Begleitwuchs wie Gras oder Brombeere durch die entstehende Öffnung herauszuziehen und zu entfernen. Auch eine Wuchshülle bedarf der kontinuierlichen Kontrolle und Pflege!
Wann beginnt der natürliche Abbau des Drahtgeflechts durch Oxidation und der Jutegewebe-Zerfall?
Engeßer: Bei dem Drahtgeflecht kann im Schnitt von einem Schutzzeitraum um die acht Jahre ausgegangen werden. Das Jutegewebe beginnt sich früher abzubauen, bietet aber einen sicheren Schutz gegen Verbiss von vier bis fünf Jahren und über diesen Zeitraum hinaus einen sicheren Fegeschutz wie vorab schon erläutert.
Wo sehen Sie persönlich die Einsatzschwerpunkte des Kelheimer Setzlingsschutzes?
Engeßer: Überall dort, wo jagdliche Einflussnahme für ein ausgeglichenes Wald-Wild-Verhältnis gesorgt hat, aber, wie es im Großteil der Fläche der Fall sein dürfte, gewünschte seltene Mischbaumarten oder/und auch Eiche, Lärche oder Weißtanne es immer noch schwer haben. Das Pareto-Prinzip gilt meiner Meinung nach auch für die Waldverjüngung im anspruchsvollen Mischwald: 80 % der Aufgabe lassen sich mit engagierter Jagd realisieren. Die übrigen 20 % werden aber nur dadurch lösbar, indem man Probleme nach guter forstlicher Praxis „wegpflegt“. Nach über 30 Jahren im Wald darf ich sagen: Waldverjüngung mit einem hohen Anteil an Mischbaumarten funktioniert auf Dauer nur im Miteinander von Jagd, intensiver Betreuung der Fläche und Einzelschutz an richtiger Stelle.